| Lesealter: ab 9 Jahre |
Jeden Sommer fahren wir mit Freunden zum Zelten an den See: Luftmatratze, Gaskocher, Boote, Schnitzmesser, Spiele, Buddelsachen, Regenjacke und Boombox – alles dabei. Inzwischen sind wir eine große Runde geworden, denn meine Schulfreunde von einst haben jetzt, genau wie ich, Familien. Manchmal ist es wie im Ferienlager bei uns, mit Kindern und Jugendlichen von zwei bis achtzehn Jahren. Und was ›die lieben Kleinen‹ so alles anstellen, das geht auf keine Kuhhaut, wie man so sagt.
Nicht nur, dass sie grundsätzlich alles überall liegen lassen, Spielzeug, Haargummis, Stifte oder Handtücher. Wobei das die Erwachsenen auch machen. Deshalb sieht um unser Zeltlager nach zwei Stunden schon aus wie bei Hempels unterm Sofa. Aber es ist auch allerhand Unfug dabei, den die Kinder verzapfen. Sie wissen ganz genau, dass sie den Volleyball nicht als Fußball benutzen sollen, und schießen ihn dann ausgerechnet ins Schilf. Obendrein sagt niemand von den kleinen Nichtschwimmern Bescheid, dass ein Erwachsener den Ball aus dem Wasser fischen kann. Wenn sie Abwaschdienst haben, zieht die Meute entweder ohne Spülmittel los, so dass alles fettverschmiert zurückkommt, oder sie verbrauchen beim nächsten Mal gleich eine ganze Flasche. Sie toben herum ohne Rücksicht auf Zeltleinen und Heringe, sie schießen mit der Zwille auf arme Enten, fällen im Wald auf eigene Faust Holz und mopsen am Lagerfeuer die Tüte mit den Marshmallows weg. Selbst die Kleineren erwischt man, wie sie an der – Achtung! – Trinkwasserentnahmestelle einen Staudamm bauen, obwohl man ihnen erklärt hat, dass die wirklich nur für Trinkwasser und nicht zum Spielen gedacht ist. Natürlich schauen sie einen an, als hätten sie von nichts gewusst.
So ist das und so muss es irgendwie auch sein. Mein jüngster Spross ist mit seinen siebzehn Jahren inzwischen der Älteste in der Runde der Minderjährigen. »Ihr kleinen Racker!« rief er letzten Sommer, als er aus dem Campingstuhl sprang und sich an die Verfolgung einer Bande Fünf- bis Elfjähriger machte. Er rief es mit so viel Herzlichkeit, Zuneigung und Verständnis, dass es mir das Herz erwärmte.
Eins meiner ersten Erlebnisse mit dem Rackertum hat sich mir tief eingeprägt, es war ein lange einstudierter und schlecht ausgeführter Aprilscherz: Ich war damals vier und wollte dem Oberarzt Adrian weismachen, dass er einen großen schwarzen Punkt auf der Nase habe. Ich freute mich diebisch, ihn gleich zum Narren zu halten, und ich freute mich viel zu sehr, um gelassen und unauffällig zu bleiben. Oberarzt Adrian hat aber sehr schön mitgespielt.
Ein Racker ist ein Kind, das gern Streiche ausheckt, Unfug anstellt und Schabernack treibt. Eine freche Rotznase oder ein Rotzlöffel, eine Flitzpiepe, ein Schlingel, Strolch, Lausebengel und Spitzbube. Die meisten dieser Wörter meinen eigentlich eher Jungs, wie Bengel und Bube eben. Das finde ich aber ein bisschen ungerecht, weil ja auch Mädchen und all die kleinen Wesen überhaupt ganz vorbildliche und ausgebuffte Racker sein können. Es müsste also auch Strolchin, Lausemädel, Spitzbübin und Schlingelin geben. Und Rackerin. Gehört habe ich das aber noch nie.
Dort, wo das Wort ›Racker‹ ursprünglich herkommt, ist es allerdings sehr dreckig und eklig: ›Racke‹ sagte man zu Kot und Dreck und Unflat (auch ein tolles Wort für ›Scheiße‹). Ein Racker war also mal jemand, der sich mit Dreck besudelte, der im Kot wühlte und den Unflat fortschaffte. Ich stelle mir da einen Job als Pinkeltopfhalter in barocken Schlossgesellschaften vor, als die Leute noch hinter die Gardinen kackten. Oder die arme Sau, die die ganze Kacke von der Straße kehren musste, die die Anwohner morgens aus dem Fenster vor die eigene Haustür kippten. Junge, Junge, müssen das Zeiten gewesen sein! Kein Wunder, dass ›Racker‹ dann zu einer Berufsbezeichnung wurde für Menschen, die – mit Verlaub – jede Art von Drecksarbeit machen mussten: Henker, Schinder, Folterknechte, Totengräber und so weiter.
So gesehen passt dann auch, wenn man sagt, man rackert sich ab, und damit meint, dass man viel und schwer arbeitet, sich abmüht, sich martert, quält und plagt, dass man schuftet, sich schindet und ackert wie ein Pferd.
Aber mal im Ernst, heißt das dann, dass die lieben kleinen ›Racker‹ mit ihren Streichen, ihren mehr oder weniger absichtlichen Teufeleien also die Folterknechte und Totengräber der Eltern, Erzieher:innen und Erwachsenen sind? Das wäre ja grässlich!
Zum Glück kacken wir heute nicht mehr in Nachttöpfe, die morgens aus dem Fenster gekippt werden. Zum Glück gibt es – zumindest hierzulande – auch diese Berufe nicht mehr, und zum Glück meinen wir ›Racker‹ heute eigentlich niedlich. Ich kann nicht behaupten, dass die harmlosen Untaten der Kinder mich foltern und ihre unschuldigen Streiche mich ins Grab bringen! Im Gegenteil, ich genieße ihr Rackertum sehr, ihre Versuche, die Grenzen zu testen, ihre Schläue, ihre unschuldigen Frechheiten, ihre Gabe, ungefiltert, direkt und herrlich konzentriert auf das Jetzt zu sein. Wenn wir heute ›Racker‹ sagen, zumal zu Kindern, schwingt immer mit, dass man ihnen nicht böse ist.
Ich finde es schön, dass mein Sohn das auch so sieht. Der war auch mal ein kleiner Racker, und zwar einer von den ganz Großen, und ist es manchmal noch. Und er hat wirklich ein Händchen für Kinder. Alle hängen sie ihm am Rockzipfel, jede:r Jugendliche und jedes Kind auf dem Zeltplatz kennt meinen Sohn nach spätestens drei Tagen mit Namen! Er verfügt über erstaunliche Geduld, zeigt Gutmütigkeit und hat seinen Spaß mit ihnen.
Wort und Text: Mathias