picobello

| Lesealter: ab 12 Jahre |

Roberto Rückebrecht hatte wirklich so was wie einen kaputten Rücken. Er war ein sehr kleines Kind, gelinde gesagt ein abgebrochener Zwerg. Roberto war zur Hälfte Italiener. Von seinem italienischen Vater hatte er eine Kaffeetönung der Haut und die kräftigen schwarzen Haare, die wie alte Schallplatten in der Sonne nur ganz wenig schimmerten, als würden sie das Licht verschlucken. Von seiner deutschen Mutter kam der Nachname und der kleine Wuchs. Bei seiner Zwillingsschwester Roberta war es anders herum: Sie war ein langes, dürres Mädchen, feingliedrig wie der Papa, ihr weißblondes Haar aber, das leuchtete und stach schon von weitem ins Auge wie ein Schwan, der auf der Schattenseite eines Teiches dümpelt. Das hatte sie von Mama, wie alte Schwarzweißfotos zeigten. Mit der Zeit war das Haar der Mutter aber nachgedunkelt zu einem Korngelb.
Ihre Kindheit verbrachten die ungleichen Zwillinge auf dem Land, in der Uckermark am nordöstlichen Rand Brandenburgs, zwischen kristallklaren Seen, Hügeln, die die letzte Eiszeit dort zusammengeschoben hat, Obstbaumalleen, Pferdekoppeln und Fischergaststätten. Ihr Dorf war auf Geheiß eines Königs angelegt worden, um die Gegend zu kolonisieren und Kartoffeln und Tabak anzupflanzen. Inzwischen gab es eine Straußenfarm, drei Ferienwohnungen, Wochenendseminare für gestresste Städter im alten Gutshaus und zwei Künstler mit verwilderten Gärten, die sich gegenseitig überhaupt nicht leiden konnten. Jeden Morgen mussten die Kinder den Schulbus in die Stadt nehmen, und wie der kleine Roberto da in den Sitzpolstern versank, dass man ihn kaum sah, oder später im Sportunterricht kaum auf den Bock hopsen konnte statt hinüber, oder wie er an der Tafel nicht zu der Stelle reichte, wo er sein Rechenergebnis eintragen sollte, wurde er oft genug Zielscheibe seiner spottlustigen Mitschüler. Dreikäsehoch, Minion und Nano waren noch die harmlosen Hänseleien, Schrumpfspaghetti, Don Liliput und Mafia-Gnom schon ärger.

Aus diesem Grund gab sich Roberto Rückebrecht doppelt Mühe, alles richtig und gut zu machen: Er war ein fleißiger Schüler, achtete auf Sauberkeit und Ordnung und war immer ein bisschen freundlicher und hilfsbereiter, als man es von einem Knirps in der Uckermark erwarten würde. – Weil er stets das Gefühl hatte, seinen körperlichen Nachteil ausgleichen zu müssen, so dass die Schicksalswaage es wieder fair mit ihm meinte. Die Zwillingsschwester Roberta war da ganz anders. Sie legte nicht viel Wert auf Pünktlichkeit oder Reinlichkeit. Für sie war die Welt in Ordnung, wie sie war. Ob ihr Zimmer nun aufgeräumt war oder nicht, ob die Mutter sie Schmuddelliese schimpfte oder der Lehrer ihr Punktabzug für unleserliche Schrift gab – ihr schien immer die Sonne aus dem Hintern. Für Roberto dagegen war die Welt erst in Ordnung, in bester Ordnung, wenn er die Hausaufgaben erledigt und sein Fahrrad geputzt hatte. Oder wenn er dem Papa im Garten half und eine schön gerade Hecke schneiden durfte. Oder wenn er das Fontane-Gedicht über den Herrn von Ribbeck einwandfrei auswendig konnte. Oder wenn er am Nikolausabend mehrere Paar tadellos sauberer Schuhe vor die Tür stellen konnte. Wenn alles an seinem Platz war, die Federtasche an der Tischkante ausgerichtet, das Lineal in der rechten Innentasche im Gummiband steckte, die Brotdose in ihrem Fach im Schulranzen lag, blitzblank aufgegessen vor der zweiten Hofpause, und die Klavierlehrerin höchst zufrieden mit seinem Vorspiel war. Wenn er sich dann noch vorstellte, auf der Welt gäbe es keinen Krieg und keine Krankheit mehr, die Kinder hänselten ihn nicht wegen seiner Größe und die kleine Valerie aus der 6b ginge mit ihm ein Eis essen, dann war alles tipptopp, fertig, nicht mehr zu übertreffen und Roberto überglücklich.

»Papa, was bedeutet ›picobello‹?«
In der letzten Mathearbeit hatte Roberto seine Antwortsätze in Reimen abgefasst. Neben die Eins hatte der Lehrer Pankratz das Wort ›picobello‹ geschrieben, mit Ausrufezeichen.
Der Vater stutzte. »Sag nochmal.«
»Picobello.«
»Das klingt Italienisch, aber ist es nicht. Bello heißt schön, aber pico? Das habe ich nie gehört. Was soll das sein? Das ist höchstens Latein, für klein. Also ›schön klein‹ … oder so.«
Ups, der Vater biss sich auf die Zunge. Der kleine Roberto trottete ab.

»Mama, was bedeutet ›picobello‹?«
»Das heißt super, großartig, also dass du das 1A gemacht hast.«
»Ist das Italienisch?«
»Es hört sich danach an, oder? Aber ich habe keine Ahnung, mein Schatz. Ich weiß nur, dass man picobello auch sagt, wenn es sauber und ordentlich ist, oder wenn sich jemand irgendwie herausgeputzt hat. So wie piekfein, sehr elegant, schnieke.«

Roberto Rückebrecht nahm es hin und verlor das Wort fortan nie völlig aus den Augen. Wie die Jahre vergingen, wuchs er heran und holte tatsächlich auch etwas an Körpergröße auf, sodass aus ihm zwar kein riesenhafter Hüne aber doch ein schmucker jugendlicher Kerl wurde. Zugleich entwickelte Roberto eine Vorliebe für schicke Hemden, gut sitzende Hosen und feine Manieren: ganz herzlichen Dank, bitte gerne doch, küss die Hand gnädige Frau. Er striegelte und schniegelte sein dichtes schlackefarbenes Haar und begann seine Pickel mit kosmetischen Tricks und Mitteln zu verstecken. So konnte er eines Tages, getragen von seinem guten Ruf was Aussehen, Fleiß und Betragen angeht, die kleine Valerie aus der 10. Klasse ins Kino ausführen.

Wieder ein paar Jahre später zogen die Zwillingsgeschwister zum Studium nach Berlin und begannen eigene Wege zu beschreiten. Roberta hielt es mit den Punks und Hausbesetzern. Sie legte sich einen Nasenring zu, trug ihr blondes Haar als Pferdeschwanz, mit Undercut am Hinterkopf, und tauchte eines Tages mit zwei Ratten auf der Schulter auf, die frech guckten als führten sie dauernd etwas im Schilde. Roberto machte sich derweil mit der Elektro- und Clubszene bekannt. Zum Ausgehen putzte er sich mächtig heraus. Er trug seine besten Hemden und makellos blanke Schuhe und schmierte Pomade ins Haar, um sich an den Stirnseiten adrette Locken zu drehen, die schnell zu seinem Markenzeichen wurden. Doch er übertrieb es mit dem Nachtleben nicht und widmete die meiste Zeit pflichtbewusst seinem Studium.
Als einer, der mit zwei Sprachen aufgewachsen war und die hellen, satten Sommer bei den Großeltern am Golf von Neapel verbracht hatte, wählte er die Sprachwissenschaft und trainierte sein Gefühl für Worte weiter: Wie stehen sie zusammen? Wie entwickeln sie sich? Welche Geschichten schillern in ihnen auf, besonders in den Worten, die schwer zu greifen und festzuschreiben sind?
So war es nur eine Frage der Zeit, bis sein Forscherinteresse wieder auf das Wort ›picobello‹ traf. In den langen Regalreihen im muffigen Untergeschoss der Universitätsbibliothek wälzte er gleich mehrere dicke Wörterbücher und hangelte sich von einem Band zum nächsten, um diesem ›Picobello‹ auf die Schliche zu kommen.
Tadellos, vorzüglich, einwandfrei stand dort, vom Feinsten. Bello war Italienisch für schön. Pico aber war weder Italienisch noch Latein, sondern kam von dem Wort pük oder puik, das auch in ›piekfein‹ steckt, und so viel wie sauber, ausgesucht, sehr ordentlich oder besonders schick bedeutet.
Sieh an, dachte Roberto, als er weiter las, dass pük aus dem Niederdeutschen, also dem Plattdeutschen kam. Denn das war ja mal die alte Mundart seiner uckermärkischen Heimat und ganz Norddeutschlands. Auch der Herr Ribbeck im Havelland hatte Platt geredet. Unter den Kaufleuten, die im Mittelalter die Meere des Nordens befuhren, war das Niederdeutsche sogar zur Standardsprache aufgestiegen, in der sie die Buchhaltung und ihre Geschäftsbriefe abfassten. Das änderte sich erst allmählich, als Luther das damals wichtigste Buch, die Bibel, in eine andere deutsche Mundart übersetzte, aus der dann das heutige Hochdeutsch wurde.
Roberto musste schmunzeln: Da hatten sich die Norddeutschen mit ›picobello‹ also ein Wort ausgedacht, das so tat, als sei es ein waschechter Italiener. Betrug, könnte man sagen, Identitätsdiebstahl! Apropos Diebstahl: Auch die Pickpockets gehen auf pük zurück. Heute sind das die gemeinen Taschendiebe, die im U-Bahn-Labyrinth unterm Alexanderplatz ihr Unwesen treiben. In alter Zeit war ein Pickpocket ein Edeldieb, der sich aus allem, was man so klauen konnte, die Rosinen rauspickte (oder pükte); nämlich Juwelen und Edelsteine. Da man sich dazu in der noblen Gesellschaft bewegen musste, war so ein Juwelendieb selbstverständlich pükfein gekleidet, vielleicht in der italienischen Mode der Zeit, und geschniegelt bis zur sorgsam geformten Haarschnecke in der Stirn. Schnieke eben, wie der Berliner sagt.
Roberto überlegte. War die italienische Tarnung am Ende sogar gerechtfertigt? Auch wenn es in Italien nicht immer ordentlich und sauber zuging, die Leute waren schon ganz gerne schick, hatten einen ausgesuchten Geschmack und Sinn für exklusive Kleidung. Von der uckermärkischen Landbevölkerung konnte man das nicht gerade behaupten, sich selbst und den süddeutschen Besitzer der Straußenfarm vielleicht ausgenommen, wohingegen die beiden Künstler am ehesten unter Geschmacksverirrungen litten.

Der fleißige, gewissenhafte, etwas zu kurz geratene Student Roberto Rückebrecht beschloss, eine wissenschaftliche Arbeit über das Wort ›picobello‹ und seine Verwandten zu schreiben. Seine Professorin bewertete diese später nur mit ›zufriedenstellend‹, weil Roberto im Schlussteil der Arbeit allzu sehr seinen sprachphilosophischen Gedanken Raum gegeben hatte. Darin führte er aus, dass sowohl picobello als auch piekfein hauptsächlich Äußerlichkeiten meinten, das Sichtbare. Etwas war ordentlich in Schuss, besonders erlesen oder schick herausgeputzt. Dieser Blick auf die Mode, den Anschein, auf die makellose Oberfläche, die vermeintlich richtige Form und die äußere Perfektion zeigte, dass die Welt sich wesentlich schwerer tat, so der Student Rückebrecht, einen tieferen Sinn zu sehen und diesen in ein Wort zu fassen. Und noch etwas in seinem Sprachverständnis, das gelernt hatte, das innere der Worte genau zu erkunden, sorgte für Unwohlsein: Viele Ersatzwörter für picobello hatten etwas Negatives und Pessimistisches. Wenn ›tadellos‹ ein großes Lob sein sollte, dann war der Tadel der Normalfall? Offenbar erwartete niemand dabei positive Überraschungen. Wenn ›einwandfrei‹ die Bestnote war, hieß das dann, dass es eigentlich fast immer etwas auszusetzen gab? Eine sehr fordernde, irgendwie deutsche Einstellung, fand der Halbitaliener Roberto. Zugleich aber steckte ein Korn Weisheit in dieser Wortwolke, denn im Grunde konnte sich niemand vorstellen, dass alles perfekt war. Und wer wollte das schon? Eine Welt, in der alles in bester Ordnung war, alles sauber, alles todschick und ohne Fehl und Makel – so eine Welt wäre wahrscheinlich ziemlich steril, wäre fertig und am Ende. Es gäbe ja nichts mehr zu tun, zu wünschen und zu hoffen.
Seine Zwillingsschwester Roberta hätte gesagt: Ich fühle mich wohl, wenn es ein bisschen Dreck gibt, ein bisschen Mensch.

Weil im Universum immer alles in Bewegung ist und sich ändert, veränderte sich auch Roberto Rückebrecht. Aus dem Student wurde ein Sprachwissenschaftler, ein Wortjuwelendieb, der im Nebenberuf ein anerkannter DJ der Berliner Elektroszene war. Seine Tracks zerstückelten die Worte, setzten sie neu zusammen und verliehen ihnen mit Melodie und Rhythmus eine besondere innere Tiefe. Auch seine Wünsche für eine Welt, die in bester pseudoitalienischer Absicht picobello war, bekamen andere Richtungen, Farben und Dimensionen, wurden demütiger, achtsamer und geduldiger. Sicher, der Weltfrieden und das ewige Leben blieben das obere Ende der Messlatte. Aber bis es so weit war, war er mehr als zufrieden, wenn Eltern und Großeltern gesund blieben oder einer der beiden Berliner Fußballclubs es in die Championsleague schaffte. Und eine ordentlich geführte Bibliothek war eben wichtiger als ein feinsäuberlich gestutzter Rasen im Vorgarten.

So blieb auch äußerlich bei Roberto längst nicht alles picobello, spätestens seit er selbst Vater eines viertelitalienischen Knirpses wurde. Schon nach einer Woche sammelten sich bei den jungen Rückebrechts die Staubflusen unter den Küchenschränken und die vollgemachten Windeln neben dem Mülleimer. Da Maschine und Wäscheständer ständig mit Kinderklamotten belegt waren, musste häufiger die Kleidung von gestern oder vorgestern angezogen werden. Wichtig in all dem Trubel blieb ein ordentliches Spiegelei zum Frühstück, halbweich und von kräftiger Farbe, wie die Hügellandschaft der märkischen Heimat, und dass Roberto sich ab und zu – je nach Anlass – schick machen und Pomade ins Haar schmieren konnte. Denn wer macht sich nicht gern hübsch, oder macht es sich irgendwo hübsch? Der Sinn für Schönheit, Gestaltung und Ästhetik, das war es doch, was Menschen von Tieren unterschied, dachte Roberto und legte sich mit spitzen Fingern eine Locke auf die Stirn. Sogar die Zwillingsschwester Roberta hatte sich inzwischen häuslich eingerichtet und wusste sich fein zu machen. Vorbei waren die wilden WG-Zeiten, das Politikstudium, das An-die-Bäume-Ketten als Ökoaktivistin. Eine stolze, schöne Schwänin war sie geworden, die im gediegenen Kostüm für eine Umweltorganisation auftrat und Verantwortung für das Projekt ›Zugvögel in der Uckermark. Indikatoren klimatischen Wandels‹ übernahm.
Ob nun der innere Wandel dem äußeren vorangeht oder beides ineinandergreift wie bei den Wörtern, sei dahingestellt. Dass aber das Innere sich manchmal standhaft der Veränderung erwehrt, bewiesen die Eltern bei ihren Besuchen in Berlin ein ums andere Mal. Ungeachtet der Windel- und Abwaschberge hieß es bei Roberto stets: »Picobello habt ihr es!« Ein Wort, welches Mutter Rückebrecht ihrer Tochter gegenüber im Leben nicht benutzen würde. Einmal Dreckspatz, immer Dreckspatz. Das mussten sie den Eltern lassen: Das Gefühl, dass manche Dinge sich eben doch nie ändern.

Wort und Text: Mathias
 

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