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Nutella
Langsam wird es unanständig, echauffierte sich Norbert Schattenfroh und wurde im nämlichen Augenblick gewahr, dass es gar nicht seine Art war, sich zu ereifern. Doch er musste bereits seit fünf Minuten ausharren und es ging keinen Deut voran. Verlegen blickte er sich um und kratzte sich, da er sich unbeobachtet wähnte, so lange den Hintern, bis ihn der Gedanke, dass mit Sicherheit irgendwo Kameras angebracht waren, wie vom Blitz gerührt innehalten ließ. Unanständig auch, ihn hier in seinem Elend zu filmen, befand er. Aber was will man machen?
Auf dem ganzen gewaltigen Erdenrund und mindestens im Umkreis dreier Querstraßen wusste niemand besser, was anständig war, als er! Wenn Otto Normalverbraucher der Archetyp war, dann war Norbert Schattenfroh das lebende Exempel einer anständigen Person. An seiner Lebensführung gab es, nach allgemeinen Gesichtspunkten und nach eigenem Ermessen, erstaunlich wenig zu beanstanden: Norbert machte jeden Morgen sein Bett und wählte, seit das Gesetz ihm das Wahlrecht zuerkannt hatte, stets anständige Parteien aus der Mitte der Gesellschaft. Niemals wurde er ohne gültigen Fahrschein oder ohne Parkschein angetroffen. Nie hatte er sich dazu hinreißen lassen, beim Baden ins Wasser zu urinieren, und noch nie war er der Versuchung nur nahegekommen, Nutella mit Salzstangen zu essen. Als das Gendern aufkam und für Garstigkeiten und Zwist unter den Aposteln des Wortwandels und den Hütern des tradierten Sprachgebrauchs sorgte, erwies sich Norbert Schattenfroh als aufgeklärter Bürger, der die Lage nüchtern zu betrachten wusste und sich anstandslos fügte. Er mochte es indes kaum ertragen, wenn Rechtschreibfehler in anderer Leute Texte sein Auge beleidigten, nur äußerte er sich selten öffentlich dazu, sah er sich doch selbst gegen den einen oder anderen Fehler nicht gefeit. So fair sollte man schon sein, sprach die lautere Überzeugung aus seinem Herzen, nicht ohne allerdings, etwas ertappt und verschämt, an jenen Moment vor Wochen zurückzudenken, als der Kassierer ihm 46 Cent zu viel herausgegeben hatte. Da hatte er auch nichts gesagt und war vom schlechten Gewissen geplagt worden.
Pfeffis
Sein ganzes Leben war Norbert Schattenfroh nun schon anständig, und siehe, so stand er hier resümierend und räsonierend, während von vorne, begleitet von einer Welle murmelnder aber verständnisvoller Gesten und Geräusche, die Ansage vernehmbar wurde, dass das Kassensystem Verbindungsprobleme habe.
Sein ganzes Leben anständig, sann Norbert und gestattete sich ein kurzes Staunen. Nie hatte er ein krummes Ding gedreht. Mit Ausnahme der Aufteilung der Pfefferminz-Bonbons vielleicht, damals im Kindergarten mit Martin. Er war trotz mehrfachen Nachzählens auf eine ungerade Gesamtzahl gekommen und hatte sich, per sofortigem Verzehr, ein Pfeffi gemopst, damit es wieder stimmte. Und hätte er Martin zu Beginn der Grundschule nicht aus den Augen verloren … In der Schule meldete sich Norbert freiwillig zum Wischdienst und entwickelte eine private Freude an den schlierenfreien, tannengrünen Tafeln, die zu jedem Stundenbeginn mit einem Datum oder einer Überschrift neu eingeweiht wurden. Außerdem trank er immer artig seine Schulmilch, sogar wenn diese, wie zu oft, sauer geworden war, und formulierte bei jeder Sachaufgabe, wie es sich gehörte, einen vollständigen Antwortsatz.
Fischstäbchen
Einmal im Sportunterricht hatte man ihn, da man ihn mit dem Ball am Fuß auf dem Felde für wenig tauglich erachtete, ins Tor verfrachtet. Als schließlich ein scharfer Schuss auf ihn abgesetzt wurde, streckte Norbert Schattenfroh, auch mangels anderslautender Belehrung, die flache Hand statt der Faust aus und brach sich prompt drei Finger. Bis der Krankenwagen kam, biss Norbert die Zähne aufeinander und riss sich mächtig zusammen. Ja es dauerte sogar, und zwar gerade ob seiner außergewöhnlichen Tapferkeit, bis der Lehrer überhaupt entschieden hatte, dass ein Krankenwagen erforderlich war. Der ehrliche Respekt seiner Mitschüler und auch ein bisschen Neid verfolgte, wie er auf einer Pritsche ins Fahrzeug verladen wurde, wo der Sanitäter »anständiger Junge« zu ihm sagte und ihm ausgerechnet die gebrochene Hand tätschelte.
Im Hier und Jetzt wurden den Wartenden mittlerweile, milde geschätzt, gut zehn Minuten ihrer Lebenszeit abverlangt. Keiner sagte etwas, niemand tätschelte Norbert Schattenfroh die Hand, es gab ja diese Verbindungsprobleme. Nur eine weitere Kundin, einen Pappkarton vor der Brust, der von Möhren und Möhrengrün, bestimmt fürs heimische Nagetier, überquoll, stellte sich hinter ihm an. Bin ich wenigstens nicht der letzte Heini, dachte Norbert. Es war schon verrückt, dachte er weiter, war doch ein Mensch, der sich anstellte und dabei in einer Schlange stand, gleich in mehrfachem Sinn ›anständig‹. Allen voran er selbst, der er immer ordentlich seinen Müll trennte, nie einen Geburtstag vergaß, sei es Familie, Freunde oder Kollegen, und der ausschließlich Fischstäbchen mit MSC-Siegel kaufte, von welchem er allerdings keine Kenntnis besaß, was genau es besiegelte. Und dann diese Unbill!
Flickzeug
Manches konnte man nur erdulden, die Fährnisse in stiller Demut über sich ergehen lassen, hatte Norbert gelernt, aber zunehmend fand er die Frage berechtigt, ob das Schicksal nicht einen Hang zum Karma haben sollte, dergestalt, dass es einwandfreies Verhalten belohnte, freundlich zurückwinkte und sich, beispielsweise jetzt, seiner erbarmte. Das Prinzip war ihm ein universelles, weshalb er auch im Ausland um anständiges Karma bemüht war, möglicherweise sogar stärker als daheim. Nicht nur, dass er sich Mühe gab, keine fremden Insekten zu töten oder Sandkörner vom Strand mit ins Bett zu bringen. Er war auch immer der Erste, der sich essenzielle Vokabeln wie ›hallo, bitte, danke, tschüss‹ in der Landessprache aneignete, wiewohl er oft nicht tiefer in die Linguistik vorzudringen vermochte. Die Gewohnheit und das ihr innewohnende Wohlwollen übertrug er bald darauf auf Inlandsurlaube und die jeweiligen Dialekte, was jedoch nicht in allen Landstrichen auf Gegenliebe stieß. Norbert Schattenfroh schloss übrigens, mutmaßlich weil er dem Schicksalskarma nicht bedingungslos traute, Reiserücktrittsversicherungen auch für Inlandsurlaube ab. Eine seiner Vollkasko-Haftpflicht-alles-geht-mit-rechten-Dingen-zu-Versicherungen hatte sich als hilfreich erwiesen, als auf dem Radweg eine Frau hinter ihm gestürzt war, während er von einer roten Ampel zum Abbremsen gezwungen gewesen war. »Sie haben gebremst!« hatte sie tatsächlich, mit einem Anklang von Vorwurf in der Stimme, zu ihm gesagt.
Weil er das Klima schützen und sich in Form halten wollte, fuhr Norbert Schattenfroh grundsätzlich viel Fahrrad. Auf seinem Arbeitsweg war ihm, auch wenn sich bei großem Fahraufkommen eine gewisse Wahrscheinlichkeit berechnen ließ, eines Tages doch ein Unding widerfahren, von dem er noch nie gehört hatte, nämlich dass er, wirklich wahr, eine Ratte überfuhr. Sie kam aus dem Gebüsch geschossen, wer weiß vor welchem Stadtparkungetüm auf der Flucht, und rannte ihm von der Seite in die Spur. Norbert erwischte sie mit Vorder- und Hinterrad, sie sonderte zuckend nur noch ein paar letzte Reflexe ab und verschied. Unter den verwunderten Blicken von Passanten und nachfolgenden Radfahrern verschaffte er ihr an Ort und Stelle ein anständiges Begräbnis und erschien, dank der zehn Minuten Puffer, die er in seine Wege einzubauen gewohnt war, dennoch pünktlich zur Arbeit.
Äpfel
Apropos zehn Minuten, dachte Norbert Schattenfroh und taxierte die Situation neu: Inzwischen waren zwei Mitarbeiter mit einer stoischen Ruhe mit dem Kassensystem und wer weiß wer noch im Hinterzimmer mit dem Ziehen der Notfallstrippen beschäftigt. Ja, auch den anständigen Leuten passierten mal außergewöhnliche Sachen, sinnierte Norbert. Und manchmal gerieten sie gar, völlig ohne eigenes Dazutun, in unanständige Situationen.
Dereinst auf amourösen Pfaden wandelnd, war Norbert mit einer hübschen jüngeren Dame zum Rendezvous im Museum verabredet gewesen und musste wohl Situation und Zweck der Verabredung reichlich verkehrt eingeschätzt haben, denn während er selbst ein ausgeprägtes Interesse und eine nicht zu verachtende Kenntnis des Spannungsbogens in der Malerei zwischen Biedermeier und Symbolismus besaß, scharwenzelte seine Begleitung achtlos an allem vorbei, nur ab und zu seltsam lüsterne Seitenblicke auf ihn werfend. Dabei hatte doch jeder von ihnen fünfzehn Euro Eintritt bezahlt. Als die Dame irgendwann keck fragte, wo denn die Toiletten seien, vorzugsweise die Behindertentoiletten, da sei mehr Platz und weniger Betrieb, brachte das Norbert Schattenfroh total aus dem Konzept, schließlich hatte er nicht für möglich gehalten, dass jemand ausgerechnet mit ihm ein Tête-à-tête im Museum in Erwägung ziehen könnte. Mit dieser Form von Unanständigkeit konnte er schwer umgehen. Zwar unternahm er noch, eher verhalten, einen peinlichen Versuch der Wiedergutmachung, doch das Date endete in einem Debakel, unvollzogen sozusagen. In den Augen der Dame musste er irgendwann die Schwelle vom knuffigen Nerd zum Vollhonk überschritten haben, der sich selbst ausbremste durch seine betuliche Korrektheit. Jeder Kleingartenvereinsvorsitzende war mehr Gangster und hatte mehr von der spitzbübischen Energie, die ausgerechnet Machos und Arschlöcher für das andere Geschlecht so attraktiv machten.
Norbert Schattenfroh war, damals immerhin und mehr als heuer, überzeugt, dass derlei Situationen – solch unanständige Stolpersteine und Fallen der Mehrdeutigkeit – die teuflischen Versuchungen waren, von einem sadistischen Weltenplan dazu erkoren, dem Anstand die Aufrichtigkeit zu rauben und seine Moral und Selbstachtung zu unterwandern. Verbotene Früchte, deren Genuss eine Art Exkommunikation nach sich zog, eine nicht nur metaphysische Beschmutzung der Seele, die das fehlgeleitete und immer mehr entgrenzte Individuum der Gesellschaft der Seligen entreißen würde, ein Ausscheren und Rütteln, das schließlich die Grundfesten der Wirklichkeit selbst ins Wanken brächte, wie wenn man ein Sandkorn aus einer Düne las und damit eine Lawine auslöste! Es war dies eine anständige Wirklichkeit in der Mitte aller möglichen Wirklichkeiten, eine fraglose, die sich in solchen Prüfungen bestätigt hatte wie ein Naturgesetz, wie Gravitation, und die Norbert Schattenfroh für überschaubar und daher für sicher gehalten hatte und wohlig genug, sich darin häuslich einzurichten. Im Moment hatte er jedoch eher das Gefühl, als sei die Anständigkeit selbst die Prüfung und die Wirklichkeit aus Indifferenz, Gleichmut und brutaler Wahllosigkeit gebaut.
Senf
Gleichmut bewies, für Norbert zunehmend unverständlich, auch das Figurenensemble dieser Situation. Zwei Warteschlangenglieder vor ihm war eine Personage, ein mittelalter Mann, der sich manierlich in teure Sportbekleidung gesteckt hatte – vielleicht, weil er sich nach der Scheidung etwas beweisen musste, dachte Norbert Schattenfroh, ein Stück zu gehässig – noch einmal zu einem Bummel durch die Warengänge aufgebrochen und hatte seinen Einkaufswagen wie einen dicken SUV in der Einfahrt stehen lassen. Nicht nur Norbert, alle Beteiligten inklusive der beiden mit den PIN-Nummern fürs Kassensystem bewaffneten und dem Überprüfen der Kabel beschäftigten Mitarbeiter schauten dem Kerl eindringlich nach, vornehmlich wohl, weil aus der Art, wie dieser sich bewegte, nicht klar wurde, ob er etwas vergessen hatte oder wirklich die Chuzpe besaß, neuerlich und ungeniert auf die Pirsch zu gehen. Vielleicht war er auch nur kaputt vom Sport und deshalb etwas langsamer in seiner Verve?
Mein Gott, also er, Norbert Schattenfroh, vergaß für seinen Teil sehr selten etwas beim Einkauf. Er war nicht nur, wie gemeinhin den Männern Mitteleuropas nachgesagt, geübt in Planung und kluger Vorratshaltung, sondern stets bestückt mit einem wohlüberlegten Einkaufszettel, seit ein paar Jahren auch digital auf dem Handy, um Papier zu sparen. Ein willkommener Vorteil war, dass er, zumal ihm sein Verbrauch bestimmter Waren bezifferbar war, automatisch in bestimmten Zeitabständen wiederkehrende Aufgaben anlegen konnte, für die Liter-Packung Senf zum Beispiel … – Ach schau an, der Mensch schlenderte mit einem Glas Senf in der Hand zurück in die Reihe! Norbert Schattenfroh schätze ein zünftiges Abendbrot mit Schwarzbrotscheiben, frisch geschnitten, am besten so, dass der feuchte Teig am Brotmesser klebte, Butter, grober Leberwurst, Harzer Roller und hauchzarten, beinahe durchsichtigen Gurkenscheiben. Und Senf durfte eben nicht fehlen, aber nicht der mit Feige, Papaya und Honig versetzte neumodische Gourmetquatsch, es sollte schon die klassische mittelscharfe bis scharfe, blassgelbe Senfcreme sein, keine Körner, beste!
Wein
Was also anständigen Senf anging, ließ sich Norbert, sprichwörtlich oder mehrdeutig wiederum, nicht die Butter vom Brot klauen. Auch sonst war er niemand, der sich von anderen einschüchtern oder gängeln ließ, sondern klar zu erkennen gab, wenn er meinte, es war zu viel. Nie hatte sich ein Norbert Schattenfroh dafür entschuldigt, zu sein, wer er war, wo kämen wir da hin! Auch das menschenmögliche Einschreiten wenn anderen Unrecht geschah, war ihm ein Bedürfnis, das er bisweilen durch Teilnahme an Demonstrationen und Geld- und Sachspenden kompensierte. Er versuchte schließlich nicht, das Kükentöten im Alleingang zu verhindern. Stets bemühte er sich, objektiv und nie extremistisch zu sein, war aber der Tatsache dabei gewahr, dass ihm eine aus Sozialismus und kirchlicher Erziehung gespeiste Parteinahme für die Armen und Schwachen seit Kindestagen als Leitmotiv diente.
Als arm und schwach hatte er die Frau mit dem Pappkarton hinter sich allerdings nicht eingeschätzt und kam sich einigermaßen bedrängt und übervorteilt vor, wie sie ihn nun, mit einer in der Theatergruppe geübten Larmoyanz und Unverfrorenheit fragte, ob er sie nicht vorlassen könne, sie habe ja nur das Möhrengedöns, die Kinder warteten, Sissi die Zweite, das Kaninchen auch, und sowieso. Ja war er denn ein Samariter? Ein Norbert Schattenfroh hatte auch nie vorgegeben zu sein, wer er nicht war! (Sissi-Frauchen sah ihn ziemlich entgeistert an, die beiden Kassierer reckten die Köpfe.) Oder zu wissen, worum es geht, wenn er keinen Schimmer hatte, dachte Norbert und bemühte sich um etwas Contenance. Er hatte sich nie verbogen, sich aber allzeit eine Neugier und Offenheit bewahrt. Er hatte sich beispielsweise nie gescheut zu fragen, was es bedeutet, dass ein Wein korkt, immer wieder – und von den recht variablen Halbantworten keine länger im Gedächtnis behalten.
Cordon Bleu
Aber es stimmte schon, zumindest reute es Norbert Schattenfroh im Augenblick ein wenig, dass er sich gemeinhin keine Eskapaden und Kapriolen leistete. Es war seinem Wesen – oder seiner Erziehung, konnte man fragen – nicht eingegeben, aus der Reihe zu tanzen, ein Risiko einzugehen oder etwas Neues zu wagen. Nie hatte er aus eigenem Antrieb und innerem Drang etwas Außergewöhnliches getan, das ihn selbst überraschte und seine eingespielten Lebensmaximen, geschweige denn seine bisherigen Erfahrungen, in den Schatten stellte oder dem grellen Lichte der Analyse aussetzte, von jenen selten auftretenden, mitunter eben unanständigen Situationen, in die man unfreiwillig, ohne oder gar mit gegenteiliger Intention geriet wie ein Reh ins Schussfeld des Jägers, abgesehen. Das bildete auf seine Weise zwar das Gemüt, zählte aber nicht, wie Norbert bilanzierte.
Einmal hatte er sich einen Satz notiert, die Essenz eines Gedankengangs, den er wichtig fand und weiter zu verfolgen bemüßigt war: die Fähigkeit Bedeutung zu hinterfragen, doch leider war ihm der Referenzrahmen des Gedankens und damit just die tiefere Bedeutung abhandengekommen und schlussendlich nichts weiter daraus geworden. Ein anderes Mal war ihm eine vage Eingebung geschlüpft, ein seltener Moment, den er übrigens als sehr energetisierend und beglückend empfunden hatte – sehr wahrscheinlich eben weil, so ging es Norbert gerade an, sich Möglichkeiten von Entwicklung und Gestaltung hatten erahnen lassen –, nämlich die Idee, dass er eine Fotosammlung von Einkaufszetteln, die die Leute liegenließen, anlegen könne. Das Projekt hatte er alsbald aus Mangel an Fundstücken und Motivation eingestellt, was nicht wundernimmt, war er höchstselbst doch auf digitale Einkaufszettel im Handy umgestiegen. Aber hatte er damals eine sinnhafte Verankerung des Projektes in einem gesellschaftlich relevanten und noch detaillierter zu verhandelnden Vektor vermisst, wurde ihm nun klarer, während vorne einer der Mitarbeiter zu aller Wartenden Schrecksekunde mit der Faust auf die Geldkassette hieb, dass gerade das Schwinden der handgeschriebenen Einkaufzettel, das Aussterben ihrer Gattung ein dokumentarisches Werk erfordert hätte.
Hätte er damals anständig nachgedacht!, dachte Norbert Schattenfroh jetzt nach. Und hätte er es doch ab und an mal anständig krachen lassen, was er nie getan hat. Nie hat er, salopp gesagt, auf die Kacke gehauen, nie ordentlich was gerissen! Nicht mal anständig aufs Maul bekommen hatte er, was möglicherweise nicht zwingend zu einem guten Leben dazugehörte, jedoch wer weiß, so ging es ihm halb durch den Kopf, mochten doch Menschen, hatten sie Erfahrungen von Brutalität und körperlicher Gewalt machen müssen, das Harte und Derbe, mit dem das Leben uns zuweilen auflauerte, anders und weniger persönlich zu nehmen. Doch Norbert wurde von Ungeduld übermannt und kam nicht dazu, an dieser Stelle weiter zu dramatisieren. Er spürte, wie er zappelig wurde, wie seine Hände sich am Einkaufswagen festkrallten, wie er sich unentwegt vor- und zurückbeugen musste und das Körpergewicht von einem Bein aufs andere und wieder zurück verlagerte. Genervt inspizierte er den Einkaufswagen der kleinen, eingefallenen Oma vor sich: ein paar Scheiben Räucherkäse, zwei Brötchen, Pumpernickel für die Verdauung, dito Leinsamen, etwas Abgewogenes von der Wursttheke, Waffeln, eine Flasche Sherry und gefrostetes Cordon Bleu, ein Gericht, dem Namen nach von französischer Finesse geadelt, dem Vernehmen nach eher gepanscht und explizit in der Tiefkühlvariante eine wenig anständige Mahlzeit.
Salz
Aber lass sie doch!, rief Norbert Schattenfroh sich zur Räson, wenn es sie satt und zufrieden macht. War dieses Essen denn einer dem Sherry zugeneigten Oma nicht würdig, selbst wenn sie Lust haben sollte, es mit den Fingern zu verzehren oder es unendlich durchzukochen und anschließend zu pürieren? Es stand ihm nicht im Mindesten an, darüber zu urteilen! Wie viel von diesem Ding namens ›Anstand‹ war denn wirklich Haltung und wie viel Schauspiel? Lag es daran, dass die einen unter Anstand die Moral und die anderen althergebrachte Sitte und geziemendes, schickliches Benehmen verstanden? Ging es beim ›Stand‹ im Anstand selbst in der ach so modernen, aufgeklärten Gesellschaft noch immer weniger darum, fest für ein gerechtes, sozial und demokratisch atmendes Weltbild einzustehen, sondern mehr darum, wo man stand, also in welcher Kulisse, in welcher Klasse, welcher Kaste, welcher Gehaltsgruppe und welchem akademischen Grad? Norbert stand hier, so viel stand fest, an vorletzter Position einer jeglichen Sinn und bare Vernunft entbehrenden Warteschlange, die sich als Bermuda-Dreieck entpuppte, und beschloss, etwas dagegen zu unternehmen.
»Vielleicht hilft ja ein Neustart!« rief er nach vorne in die Problemzone des Kassensystems, schließlich ging es, so seine Annahme, bei Verbindungsproblemen den Maschinen nicht anders als den Menschen, doch stellte er postwendend, an den Blicken der zwei Kassierer wie der Umstehenden abzulesen, fest, dass er nicht etwa einen konstruktiven Beitrag geleistet, sondern Unverständnis und Missmut gegen sich gesät hatte.
Nun hatten die Jahre Norbert Schattenfroh gelehrt, die meisten Geschehnisse mit großer Seelenruhe hinzunehmen, doch so ärgerlich er es fand, wenn die Dosen mit den eingefrorenen Kräutern im heimischen Tiefkühlfach falsch beschriftet waren, was zugegebenermaßen kleinlich war, so ärgerlich im großen Stile fand er, wenn Geräte und Abläufe nicht funktionierten und Pläne aus Gründen außerhalb seines Einflusses nicht aufgingen. Wozu zahlte er denn seine Steuern, wenn nichts lief in diesem Land? Dergestalt regte sich der Trotz in ihm, Norbert, der immer beflissen seine Steuern zahlte, keinen einzigen Steuertrick kannte und nicht einmal wusste, welche legalen Absetzungsmöglichkeiten ihm zu Gebote gestanden hätten. Ja, das war eben das Salz in der Anständigkeitssuppe, stellte Norbert der Feinschmecker fest, um, nicht zum ersten Male, den bekannten und viel bemühten Allgemeinplatz, dass man als Anständiger in der Gesellschaft nicht gut vorankam, ins Felde zu führen.
Auch darum war es wohl verlockend weiter zu insistieren: »He Sie!« rief er durch die Schlange nach vorn. »Können Sie nicht aufschreiben, was wir kaufen und bar abkassieren? Dann geben Sie das später in ihr Kassensystem ein.«
Aller Augen waren im Nu auf ihn gerichtet, einige schockiert ob dieser kruden, vorsintflutlichen Idee, andere wie Schafe, die von einem Gewitterdonner beim Weiden gestört worden waren. Als erste fiel ihm die möhrengrünbepackte Kaninchenhalterin in den Rücken. »Ich wollte aber mit Karte zahlen.« »Ich auch!« stimmte der Sport-Dude zwei Wagen vor ihm ein. »Ich kann auch bar …« begann die Oma vor Norbert unentschlossen, wankte, nicht nur im Geiste, einen Hauch von Sherry ausdünstend, schwenkte um. »Aber mir ist das im Grunde egal, ich habe auch so eine Karte.« Und sie setzte sogar einen Nachsatz, der, obschon gehaspelt, einem Nachtritt gleichkam. »Ist ja auch gut, das mit den Karten, dann muss man das viele Münzgeld nicht mehr mit sich herumtragen.«
War er denn, brauste es jetzt in Norbert Schattenfroh auf, so vollständig neben der Spur? Was war, beim Barte seines Urgroßvaters, mit den Leuten los, dass sie, statt sich, ihm gleich eine Wartezeit von nunmehr zwanzig Minuten als ungehörig, oder besser, als unanständig zu empfinden, mit ihm zu verschwistern, um diesem unsäglich hohlen Treiben endlich zu entrinnen, sich mit einer unerklärlichen Ernsthaftig- und Willfährigkeit dem Kassensystem fügten und gegen ihn opponierten?
Reiswaffeln
Die Anständigkeit ist doch insgesamt eine fade, ernüchternd mediokre Veranstaltung, resümierte Norbert Schattenfroh in einem kurzen Schauer von Enttäuschung. Ja, seine Beziehung zum Anstand war ihm, wie er erkennen musste, schwierig, möglicherweise sogar belastend geworden. Man bekam ganz offenbar zu wenig Anerkennung und zog kaum seinen Vorteil, gemessen daran, dass es eine mühsame Beziehung war, die emotional nur so viel nährte wie Reiswaffeln.
Norbert Schattenfroh stellte es sich heilsam vor, seine Anständigkeit, vielleicht am Beginn in einem zeitlich begrenzten Rahmen, angelegentlich abgeben zu können, wie eine Tasche an der Garderobe oder wie Kinder im Bällebad. Andererseits mochte das nur ein kurzfristiger Impuls sein, überlegte Norbert, oder es wurde ihm von einem kleinen Geist auf der Schulter eingeflüstert, der Unbehagen streute und Scheu und Zweifel säte – der Geist der Loyalität. Norbert war ein überaus loyaler Mensch und hatte dies immer für eine schöne, weil verlässliche Eigenschaft gehalten. In seinem Leben hatte er auch nur ein einziges Mal seine Liebe, seine wahrhaftigste Liebe verschenkt, gleich zu Anfang, an das kleine Mädchen mit den dunklen Augen, über denen immer ein Porzellanglanz lag, als stünde etwas in ihrem Wesen immer nahe am Wasser. Drei Jahre waren sie ein Paar gewesen, und sicher, es hatte andere Frauen in Norberts Leben gegeben, doch war keine Liebe so unschuldig, so zart und brutal zugleich, so groß und überschwemmend, so tief wurzelnd wie diese gewesen. Sie hatte, als es auseinanderging, zu ihm gesagt: »Iss dich satt an diesem Leben. Dafür sind wir da.«
Nun war Norbert Schattenfroh in diesem Moment ausgesprochen satt, gar übersättigt von der guten alten, der trockenen und pappigen Anständigkeit. Er hatte Appetit darauf, etwas anderes zu probieren, genau genommen verspürte er einen Löwenhunger auf Unanständigkeit! Wartete er hier noch länger, würde es Abend werden, und am Abend wurden die Farben der Unanständigkeit erst satter, dann rosiger und insgesamt immer appetitlicher. Er mochte seine Unanständigkeit blutig, durchfuhr ihn der Gedanke und entlockte Norbert ein einigermaßen hysterisches Kichern, das ihn abermals zum Mittelpunkt des Grolls der Umstehenden machte. War er vielleicht zu loyal, zu engstirnig in seinen Prinzipien?
»Wer ist denn hier zuständig?« Norbert Schattenfrohs Frage flirrte entzündlich durch die Halle. »Ich möchte mich beschweren.«
»Ach jetzt hören Sie doch auf!« schlug es ihm aufmüpfig aus der Warteschlange entgegen, »Ja, genau!«, und noch während Norbert darüber nachdachte, wie vergleichsweise das Eskalationspotenzial in der Warteschlange beim Arbeitsamt wohl beschaffen sei, wurde der Ton aggressiver. »Reißen Sie sich doch mal anständig zusammen! Wir stehen hier alle an.«
»Ja, genau!« Mehr wusste Norbert nicht zu antworten, irritiert durch den Sicherheitsmann, der breit und schwer in einer schweren Sicherheitstür neben einem verspiegelten Fenster erschienen war, nachdem er eine lange Weile über die Kamerabilder das Geschehen, besser gesagt das Nicht-Geschehen beobachtet hatte, und nun ein Geschehen einzusetzen schien, das neben seiner Aufmerksamkeit seine physische Präsenz erfordern mochte.
Spekulatius
Norbert war durchaus mit dem Gefühl bekannt, von Zeit zu Zeit etwas falsch zu machen, so als käme gleich die Polizei um die Ecke; eine seltsam instinktive Angstregung, die auch bei Menschen aus den anständigsten Elternhäusern angelegt war. Aber da war auch ein anderes Gefühl von ›falsch‹, als käme das Leben höchstselbst mit einem »So nicht!« auf den Lippen um die Ecke. An solch einem Punkte mochte Norbert Schattenfroh sich augenblicklich wähnen, ein Punkt, an dem sich alles falsch anfühlte, was er anstellte, als wäre sein Verständnis des Ursache-Wirkungs-Prinzips verrutscht, so dass er, infolge teils eklatanter Fehleinschätzungen, die Richtungen und Ergebnisse seines Agierens betreffend, über die Entwicklung mancher Lebensstränge und Situationen aktuell bass staunen konnte. Das machte eine traurige Gestalt aus ihm, einen traurigen Ritter in einer rostigen Rüstung, auf der Suche nach dem letzten Drachen, dem letzten Turnier, nie über die Minne hinaus gekommen, unverstanden und seinesteils unstet durch das eigene Unverständnis pilgernd, den davongaloppierenden Weltläuften hintendrein. Aber nein, sagte er sich, indem er mit der Hand durch die Luft wischte, als würde er eine lästige Fliege verscheuchen, nein diese Gestalt werde sich ein Norbert Schattenfroh niemals anziehen, dieses Gefühl von ›falsch‹, das da kurz aufgetaucht war, mochte er so gar nicht leiden!
Der Sicherheitsmann walzte sich jetzt an der gesamten Warteschlange vorbei nach vorne und positionierte sich hinter der Kasse, wo er, halbherzig und offenbar nur zum Scheine, die beiden Mitarbeiter beim Lösen der Verbindungsprobleme beobachtete.
War die Verbindung ein Problem? Gab es einen Punkt, an dem man dem Anständigsein nicht mehr entrinnen konnte, da man sich selbst schaden würde, indem man es versuchte? Das fragte sich Norbert, und es blieb offen, ob er die Frage lauthals in den Raum gestellt hatte wie einen Elefanten. ›Stehe ich vielleicht auf der falschen Seite? Habe ich mich in die falsche Schlange gestellt und mich aus Anstand hier festgekettet?‹ Das war freilich rein spekulativ, solange keine Taten es bewiesen, und wahrlich stand Norbert Schattenfroh neuerdings der Sinn nach Revolte, stieg ihm das Flackern eines heißen Feuers in den Kopf, brach sich die Sehnsucht Bahn, zu einem lustvollen Rausche sich weitend, und so nahmen zu lang gebändigte Regungen ihren Lauf, nur einmal noch kurz in ihrem Ausbruch verzögert, ein allerletztes Zagen und Bangen, nicht aus Scheu vor den Leuten oder den Konsequenzen, sondern vor der eigenen Courage, die nach Vergewisserung suchte: Warum war er gewillt, aufs Ganze zu gehen und ein Risiko in Kauf zu nehmen? Weil es für Freiheit keine Versicherung gab, beziehungsweise umgekehrt, weil es, sobald man es versichern konnte, keine Freiheit war.
Norbert fand den Gedanken sehr anständig von sich und genoss den Widerspruch ausnehmend, als er den Anwesenden ein »Jetzt ist Schluss mit anständig!« entgegen schmetterte, um sogleich in einem sich überschlagenden Redeschwall vom Standesdünkel, dem Schiefstand zwischen Dienstleister und Kunde – im Discountergeschäft im Speziellen und im Neoliberalismus im Allgemeinen – sowie überhaupt von der grassierenden Anmaßung in der Welt zu dozieren, dass Jedermensch glaubte, es stehe ihm an, über dieses und jenen zu urteilen, Radfahrer auf dem Gehweg zu maßregeln oder verächtlich die Lebenshaltung der anderen zu kritisieren, und die Leute sich dabei nicht entblödeten, ihm, dem Musterknaben des Anstands, vorzuhalten, dass es ihm nicht zustehe, die ungehörige Wartezeit in eben dieser unserer Einkaufsschlange zu monieren!
Die Situation entwickelte sich, war doch bereits während Norberts Brandrede ein gehöriges Rumoren aufgebrandet, zu einem absurden Improvisationstheaterstück, wenn auch ein wenig klamaukig, das mit Tempo und unter Einmischung aller Beteiligten auf seine Klimax zusteuerte, und das Norbert, zwar bereit, eine nach aufdringlichem Aftershave riechende Standpauke des Ordnungspersonals über sich ergehen zu lassen – gewiss nicht unwidersprochen, doch von einer lausbübischen Freude verzückt im Geiste in ein fulminantes Finale samt Einkaufswagenrennen in den Gängen, Duellen mit Möhrengrün, Sherry-Runden für alle und gemeinschaftlichem Vandalismus am Kassensystem umschlagen sah, als er unvermittelt gepackt und in einer geradezu sakralen Zeremonie samt seiner Unanständigkeit vom Sicherheitsmann standrechtlich nach draußen in die Freiheit eskortiert wurde, Hausverbot inklusive.
Wort und Text: Mathias
PS: Schickt mir gerne Fotos von handgeschriebenen Einkaufszetteln, dann machen wir eine Galerie 🙂